musik = geschichte
- Ronald

- 5. Aug. 2023
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Mai

Um das eigentliche Wesen der Musik neben den gängigen musikwissenschaftlichen Definitionen zu erfassen, sollte man ihren Grund – also ihre eigentliche Ursache – durch einen weiteren Betrachtungswinkel erweitern. Die anthropologische Sicht ist meist relativ klar umrissen und setzt gerne Instrumentenfunde in Beziehung mit unserer menschlichen Eigenschaft, Schallereignisse als Musik zu bezeichnen und eben von Geräuschen zu unterscheiden. Diese Verknüpfung ist natürlich nachvollziehbar und aus wissenschaftlicher Sicht nur konsequent, jedoch etwas einengend. Ich möchte dies kurz erklären und bewusst eine andere Sphäre der Musik gedanklich aufspannen.
Die Betrachtung der möglichen Ursprünge von Musik kann auch losgelöst von unserem heutigen Verständnis davon stattfinden. Generell ist die Frage nach den Anfängen von Musik eine unglaublich schwer zu beantwortende. Der Wunsch, dies jemals datieren zu können, wird unerfüllt bleiben, und das ist auch nur allzu nachvollziehbar. Musik gehört nämlich zu uns wie unsere Atmung, wie unser Herzschlag und wie unser Lebensrhythmus im Allgemeinen. So tritt die Frage nach dem Alter von Musik in den Hintergrund und wird von jener nach der Ursache oder dem Grund verdrängt. Warum brauchen wir also Musik?
Musik als Werkzeug
Der Köper der Musik, oder besser ihre eigentliche innere Organisation, ist relativ einfach zu definieren. Wir unterscheiden Elemente wie Harmonik, Rhythmik und Melodik, geben ihr also eine Form, deren wechselwirkender elementarer Aufbau von uns beschrieben und beobachtet werden kann. Dies ist natürlich nur ein Teilbereich, der es uns ermöglichen soll, Musik auf herkömmliche Weise zu erfassen. Ungeachtet dessen hat Musik aber eine viel komplexere Gestalt, als wir vielleicht vermuten würden. Sie besitzt eine die großen Bausteine verbindende Kraft, die man nicht leicht sichtbar machen kann, zumindest nicht vor der Erfindung des Elektrokardiogramms (kurz EKG).
Nun möchte ich euch einladen, ein Gedankenexperiment anzustellen:
In unserer Vorstellung gibt es den uns bekannten Musikbetrieb nicht, also keinen Grund Musik zu machen, um damit Geld zu verdienen oder davon zu leben. Kein Streaming, keine Konzerte und keine Stars, die jedes Jahr die Rekorde der anderen brechen. Wir versuchen Musik als mystischen Bestandteil unseres Lebens zu betrachten. Sie kann Medizin sein, sie fungiert als Bindemittel um tausende Menschen zu vereinen und sie lässt uns Unterbewusstes erfahren. Sie ist nicht nur dazu da, uns die Zeit im Aufzug angenehmer zu gestalten. Wir versuchen dieses Phänomen von seinen beschränkenden Rahmenbedingungen zu befreien und es zu seinem eigentlichen Sinn zurück zu führen.
Von jenen Aspekten, die nun vielleicht übrig bleiben, möchte ich gerne einen, wie ich finde besonderen wählen, um auch die noch offene Frage des Ursprungs von Musik zu ergründen.
Im Fall von Musik ist die Inspiration eine überaus spannende Angelegenheit. Musik hat nämlich eine besondere Eigenschaft. Sie berührt uns immerwährend, gerade weil sie die meiste Zeit ausschließlich in uns existiert. Sie manifestiert sich nur ganz kurz, nicht wie ein Bild oder eine Statue. Sie verschwindet vor unseren Augen und Ohren und nimmt einen Platz in unserer Seele oder unserem Herzen ein. Hören wir sie dann abermals, sind wir erfüllt von Emotionen.
(Ich habe im Zuge meiner musikalischen Laufbahn sehr oft alten Menschen in Spitälern vorgesungen. Die Zuhörer baten dann manchmal um spezielle Lieder oder kamen nach dem Konzert und berichteten von ihren Gefühlen und den schönen Erinnerungen, die sie mit dem ein oder anderen Stück verbanden.)
Musik ist also wie eine Zeitmaschine und nicht nur das, sie hat die Kraft Gefühle und Erinnerungen zu verknüpfen und über die Zeit zu tragen. Sie ist also nicht nur Sprache und das Ergebnis einer getroffenen Einigung, sondern sie ist auch ein Werkzeug und Hilfsmittel, die Welt in uns und um uns abzubilden. So ist ihr Lebensraum und Ursprung wohl nicht nur bei uns zu finden, sondern eben auch in gleichem Maße in unserer Umwelt. Der Platonische Dialog „Ion“*, die Inspiration behandelnd, mag unvollständig und vielleicht auch in den Augen Goethes satirisch wirken. Die grundsätzliche Frage nach der Quelle von Musik ist allerdings ausserordentlich wichtig. Durch den Versuch sie zu ergründen offenbaren sich Aspekte der Musik, die vielleicht nicht im ersten Moment mit ihr konnotiert werden würden. So ist die eigentliche Gestalt dieses Phänomens eine, die mit unserer Natur und unserer Entwicklung nicht nur verknüpft ist, nein, sie bildet diese in unglaublichem Detailreichtum auch ab. Die Schwierigkeit ist, diesen Prozess der Illustration sowie der nachträglichen Interpretation nicht zu stören. Nimmt man nun dieses Vehikel und lässt es verkümmern, trifft dies auch einen wesentlichen Teil unserer menschlichen Seele.
* eine gute Zusammenfassung zu diesem Dialog (IOS) findet sich auf Wikipedia. Der Text kam mir erstmals in meinem Studium unter und ist nicht unumstritten, jedoch absolut lesenswert.
Zeitreise
Uns ist durch die Musik eben deshalb auch die Möglichkeit gegeben, unser eigenes Geschichtsbild zu vervollständigen und uns als Menschen besser zu verstehen, weil wir intuitiv die Welt, wie sie ist und wie wir sie erfassen, in Musik abbilden. Die Musik des Mittelalters zum Beispiel ist klar strukturiert und die Kirchentonarten dominieren. Die Dreiklangsharmonik ist noch nicht entwickelt, und eine Jahrhunderte dauernde Geschichte, geprägt durch das geozentrische Weltbild und das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem, sowie dem Einfluß der Religion und dem daraus resultierenden Anspruch, ist in der Musik aus dieser Epoche klar erlebbar. Die klare Systematik des Mittelalters, sich die Welt zu erklären, wird nahezu tausend Jahre Einfluss auf Kompositionen haben. So sehen wir in weitestem Sinn die Gestirne um unsere Erde auf runden konzentrischen Kreisen* wandeln, wenn wir Musik aus dieser Zeit hören. Sie lässt uns eintauchen in eine vergangene Wirklichkeit, die durch Musik neues Leben erlangt.
* Dieser überaus elegante und eingängige Gedankenkniff wurde mir ebenfalls im Zuge meines Studiums zugetragen und hat mich mein Leben lang begleitet. Die Quelle hierfür ist mir nicht bekannt.
Wandel
Der Wechsel hin zum heliozentrischen Weltbild, der langsame Übergang von Quinten- und Quartenharmonik zu Terzen und Sexten, sowie die Entwicklung von Dur und Moll, also unserer gängigen Dreiklangsharmonik, sind Zeugnis einer anderen Betrachtungsweise der Menschen und ihrer sich im Wandel befindlichen Welt. Das Individuum, die Emotionen und die Stellung der Natur sind beträchtliche Elemente, die die Musik und deren Abbildungweise nachhaltig verändert haben. Die Welt, die es nun darzustellen galt, wurde immer komplizierter, so auch die Beschreibung des Menschen. Die Seele tritt mehr und mehr in den Vordergrund und wir bedienen uns wieder der Musik, um mit ihr in Korrespondenz zu treten. Große Konzertsäle entstehen neben den Kirchen, und man preist nicht mehr nur das Göttliche, sondern ebenso das Irdische. Mächtige Orchester, Chöre und Ensembles stellen immer noch komplexer werdende Musikstücke dar, und der Musik werden mannigfaltige Kräfte unterstellt. Der Zugang zur Musik wird immer leichter und wir formen unsere Wohnzimmer zu Musikhallen, die jederzeit alles liefern, was wir wünschen.
Zugegeben sehr verkürzt dargestellt, möchte ich auf einen wesentlichen Punkt hinaus: Die Musik war und ist ein Indikator, ein Messinstrument, ein Archiv und eine Quelle, die uns Menschen jederzeit zur Verfügung stehen sollte. Sie beschreibt unsere Zeit und unsere Sicht auf die Dinge. Der Stil, die Art der Komposition, all die kreativen Prozesse, die ihr zu Grunde liegen, sind ein umfängliches Zeugnis unserer Kultur. So ist Musik wie ein roter Faden durch die Geschichte, der uns mit allen Menschen vor und nach uns verbindet. In dem Beitrag musik = code ist dieser Aspekt auf Basis der Schrift erörtert. Hier ist es die Erkenntnis, dass ein Musikstück Jahrhunderte nach seiner Entstehung die Gefühle der Menschen mit Leichtigkeit rühren kann. Diese Kraft ist einfach faszinierend und geheimnisvoll zugleich.
Vielleicht hört ihr Musik jetzt mit „anderen Ohren“. Vielleicht könnt ihr manche Bedenken gegenüber der KI und ihren Möglichkeiten nun besser nachvollziehen. Jedenfalls hoffe ich, dass ihr Musik jetzt auch anders seht, vielleicht als allumfänglichen Teil eurer menschlichen Natur und nicht ausschließlich als Produkt, das es zu konsumieren gilt.
Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen und freue mich wie immer über den ein oder anderen Kommentar.
Liebe Grüße
Ronald
Anhang: Ich habe während der Arbeit an diesem Essay die Musik von Christóbal de Morales und Jean Mouton gehört. Viel Freude beim Reinhören.
Vorschau: Musik hat neben ihrer ästhetischen Sphäre auch eine Wirkkraft auf unsere Gesundheit. Diesen unglaublich interessanten Aspekt möchte hier einführend betrachten.

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